10. März 2015

Resümee Infantilisierungs-Salon


Infantilisierungssolon – Ein Rückblick



Die Infantilisierung der Gesellschaft ist ein immer wiederkehrendes Thema der Feuilletons, in der (Sozial-) Wissenschaft spielt der Begriff aber kaum eine Rolle. Warum das so ist, wurde auch im Salon schnell klar. Die Konzepte und Tendenzen, die sich hinter dem Begriff versammeln, unterscheiden sich abhängig vom Betrachter und der Betrachtungsweise was denn infantil oder kindlich sei – und damit auch von einem Werturteil, was erwachsenes Verhalten sei. Der Begriff kann nicht wertneutral verwendet oder "objektiviert" werden.
Was wären aber infantile Zuschreibungen? Wunschgetriebenheit, Narzissmus, Stilisierung, Der Effekt als Inhalt einer Botschaft, das Plädieren auf eigene Unzurechnungsfähigkeit, Entpolitisierungen, Fixierung auf das Hier und Jetzt, Ästhetisierung der Existenz, Zurschautragen von Sexualität, Provokation als Selbstzweck, das Nicht-Aushalten von Ambivalenzen und Widersprüchen, Zeigestolz oder die Fehlende Unterscheidung von Ich und Welt wären die wichtigsten Beispiele. Natürlich erwecken sie Widerspruch, und es geht nicht darum, diese Eigenschaften abzuwerten. Allerdings begibt sich eine Gesellschaft, in der sich diese Eigenschaften häufen, in Gefahr. Die Frage der Infantilisierung wird dabei stets im Zusammenhang stehen mit der Frage des Liberalismus. Es ist zweischneidig: Freiheit bedeutet Ermächtigung, mithin Mündigkeit – öffnet aber auch das Tor zu infantilem Verhalten. 

Ein präsentes Beispiel für infantile Tendenzen ist die Fokussierung auf unsere eigenen Wünsche und Gefühle als Maßstab des Handels. Ich-Botschaften sind Zeitgeist geworden, seit bekannt wurde, dass sie Beziehungskonflikte lösen helfen. Doch dabei werden gelegentlich Aussage (das Miteinander) und Methode (Ich-Botschaft) verwechselt. Es gibt eine wichtigere Komponente, wenn es um „erwachsenen“ Umgang mit Konflikten und Entscheidungen geht: Das Maß. Sich nicht mäßigen können ist ein Wesenszug, den man infantil nennen kann. Und eine Gesellschaft, die sich nicht zu mäßigen versteht, wiese ein Merkmal des Infantilismus auf. 

Wie nahe liegt beim Sprechen über Maßlosigkeit der Verweis auf die kapitalistische Welt mit den ihr innewohnenden infantilen Strömungen, sei es das Haben-Wollen oder die Verkürzung/Vereinfachung von Inhalten, um mit wenig ökonomischem Aufwand eine möglichst große Gruppe anzusprechen. Dies alles liegt in solcher Weise auf der Hand, dass der analytische Gewinn der Diskussion wohl überschaubar ist. Dennoch hat sich die Diskussion in diesem Thema verstrickt, weil es ein ethisch und normativ extrem geladener Bereich ist. Das ging bis zu der Position, dass Individuen in unserer Gesellschaft bewusst infantil gehalten werden, um sich besser steuern zu lassen – eine Mehrheit fand diese Position nicht, deren systematischer Nachweis aussteht. 

Wir untersuchten das Problem an einer Frage: Ein gerissener Anlageberater mag an infantilen Kunden interessiert sein, da sie im Idealfall zügig und kritiklos gewinnträchtige Verträge unterschreiben. Gesetzesänderungen aus neuerer Zeit schützen Verbraucher vor Verträgen, die sie nicht verstehen, erhöhen die Beratungs- und Nachweispflichten für die Berater beträchtlich. Wird damit aber Verantwortung vom Verbraucher genommen, ihm mithin die Mündigkeit abgesprochen? Wird damit nicht jene Infantilität befördert, von der die Branche dann wieder profitiert? Umso leichter es scheint, aus einem Vertrag auszusteigen, umso weniger muss ich ihn verstehen. Hier einigten wir uns nicht – das Thema ist zu stark von persönlichen Erfahrungen und Wertvorstellungen geprägt, um es an einem informellen Abend auf der abstrakten Ebene verhandeln zu können.

Als „kollektive Selbstverkleinerung“  beschrieb ein Beobachter die Infantilisierung. Sie vergrößert die Gefahr, einfachen Lösungen auf den Leim zu gehen. Es nimmt uns geistige und ästhetische Potenziale. Bedenken wir nur den Erfolg von Shades of Grey, ein Buch, das scheinbar sehr erwachsene Themen behandelt – tatsächlich aber ein Sammelsurium der Infantilität ist. Krönung ist die Entführung auf das Märchenschloss, das der Protagonistin wiederfährt, als sie mit dem Hubschrauber in die Luxusimmobile des sexsüchtigen Milliardärs geflogen wird. Nichts in dem Buch verweist auf etwas außerhalb seiner selbst. Es ist eine Kinderwunschwelt, die sich in sich begnügt. Das heißt nicht, dass Erwachsene so etwas nicht dürfen – aber sie sollen sich selbst darin nicht verlieren. Es muss Teil der Welt bleiben – sich selbst mit der Welt kritisch in Beziehung setzen, das ist kein infantiles Verhalten. Dabei existiert beim kritischen Denken ein entscheidender Unterschied zwischen reflektiert und reflexhaft – letzteres ist auch eine infantile Tendenz unserer Zeit.

In unserer Gesellschaft sind die Boulevardmedien ein reger Infantilisierer. Der Konflikt entsteht dadurch, ein möglichst großes Publikum erreichen zu wollen: Wie niedrig muss ich die Schwelle legen? Was darf ich vom Anderen erwarten? Nahe liegt es da, mit den einfachsten Reizen zu arbeiten. So eine Reizquelle ist das Internet - gerade auch für aufgeklärte Menschen. Nie war es leichter, sich Selbstbestätigung abzuholen und sich der Widersprüche der Welt zu entledigen. Vielschichtigkeit zu erfahren und zu verstehen steht auf dem Spiel. Dazu bedient sich die Gesellschaft einer komplexen Symbolsprache. Symbole zu deuten ist ein kulturell gewachsener Prozess, den zu erlernen Reifung bedeutet. Es ist kindisch, alles beim Wort zu nehmen. Aber dem, der nicht dahinter schauen mag, ist mit Vernunft nicht beizukommen. Die bibelworttreue Teaparty-Bewegung in den USA war ein Beispiel dafür. Weitere wird jeder in seinem Umfeld, ja bei sich selbst finden.

Zur Unendlichkeit der Ebenen, auf denen sich die Welt abspielt, gibt es mit Selbstverliebtheit, Simplifizierung und Schönheitssucht keinen Zutritt.


Abschließen wollen wir mit einer Botschaft der Philosophin Susan Neiman: Erwachsen sein heißt beides zugleich im Blick haben: Die Welt, wie sie ist. Und wie sie sein sollte.


Marcel Pochanke




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