20. April 2020

Gedanken zur Zeit - Ein Essay zur Corona-Situation


Sternstunde der Aufklärung?

Von Marcel Pochanke
16. April 2020


Jetzt, in der Corona-Krise, fehlt er uns wieder, der große Intellektuelle, der uns leitet, um mit der Situation umzugehen. Jürgen Habermas wurde genannt, der einst als "Gewissen der Nation" galt. Aber Habermas, bald 90-jährig, ist nicht wirklich zu hören. Das gilt auch für die anderen Denker und Literaten, die jetzt ihre Lebenserlebnisse, ihren Umgang mit dem Gebremstsein, ihre Zukunftspläne aufsagen, nicht aber diesen großen Rat geben, den wir jetzt bräuchten. Oder? Nein, sie tun recht daran, denn das ist keine Situation für den einen großen Wurf. Um das zu analysieren hilft er uns dann doch weiter, der Jürgen Habermas - mit Ideen, die lange vor Corona entstanden, und deren Bedeutung man gerade sehen kann. Er verteidigt dabei nicht zuletzt die Idee der Aufklärung, die Vernunft als Grundlage des Handelns, die als Haltung gerade unheimlich wichtig für die ganze Gesellschaft ist.
Seine Theorie der Öffentlichkeit beschreibt Vernunft als kritischen, kommunikativen Prozess einer Gesellschaft. Gerade erleben wir sie: Die Vielheit der hörbaren Stimmen, Virologen, Minister, Betroffene, mag für manche überfordernd wirken - aber es hilft, wenn man diese Vielheit als Grundwesen unserer Welt begreift und schätzen lernt. Vernunft braucht dafür Gemeinsamkeit: Gemeinsame Orte, wo man sich trifft (keine Facebookgruppen). Gemeinsames Wissen, auf das man aufbaut. Gemeinsame Ziele, auf die man sich verständigt.
Schade und gerade sehr augenfällig ist, dass in den allermeisten anderen Fällen wichtiger Entscheidungen dieses komplexe öffentliche Aushandeln und konstruktive Ringen um Lösungen so nicht sichtbar wird. Wann hatte man Talkshows gesehen, in denen die Teilnehmer so intensiv einander zuhören, Gedanken positiv aufgreifen und sich nicht gegenseitig bloßstellen wollen? Das mag nicht nur an dem respektgebietenden Abstand liegen, den die Teilnehmer jetzt einhalten müssen.
Kritiker der aktuellen Maßnahmen werden einhaken, dass sie ja wohl nicht gehört werden. Doch, werden sie. Aber sie stehen nicht im Mittelpunkt der Debatte, wie es in den letzten Jahren oft der Fall war, als Lärm von den Rändern das kluge miteinander Streiten arg in Mitleidenschaft zog. Dabei erleben wir, wie sich auch die Kritiker zumeist an die Abstandsgebote halten. Schließlich wissen sie es am Ende auch nicht: Wer hat das Virus? Und was macht es? Wer jetzt meint, den ganz großen Überblick zu haben, denkt wahrscheinlich kürzer, als er denkt.
Nichtwissen gehört zum wichtigsten Wissen, das wir haben: Es bedeutet, Grenzen der Erkenntnis einschätzen und aus ihren Handlungen ableiten zu können. Wo unser Wissen aufhört, zeigt viel über die Welt. Und ist kein Makel. Das Argument, die aktuellen Maßnahmen seien falsch, weil wir nicht wissen, wie sich das Virus ausbreitet und was es macht, geht fehl. Wir würden das Kind ja auch dann vom heißen Topf fernhalten, wenn wir nicht wissen, ob es den in einigen Minuten herunterreißt. Nehmen wir die Diskussion um den Klimawandel. Der Zusammenhang Mensch - Klima ist nur sehr wahrscheinlich, aber nicht direkt beweisbar. Selbst wenn wir ein Gas freisetzen würden, das die Atmosphäre um 20 Grad pro Jahr erwärmen lässt, bliebe unsere Täterschaft weiter unbeweisbar. Das liegt in der Natur der Sache: Wir können das Co2-Atom, das wir erzeugen, nicht unmittelbar weiterverfolgen und seine Wirkung direkt sehen. Dennoch bringen Klimaskeptiker als Hauptargument vor: Dass es der Mensch sei, der hier Hauptverursacher der Erderwärmung ist, sei nicht bewiesen. Ihre für sich begründbare Plausibilität heißt aber nicht, dass sie vernünftig argumentieren. Mit Habermas würde Vernunft verlangen, dass sie den Anschluss suchen an das Denken der Anderen und sich nicht in der Antiposition einrichten wie in einem behaglichen Stübchen, in der das Fremde, und das heißt hier widersprechende Argumente, keinen Zutritt hat.
Es liegen für das, was in dieser weltweiten Corona-Situation passiert, überhaupt keine Muster, keine gesellschaftlichen Erfahrungen vor. Geschichtliche Vergleiche sind schwierig. Und was sagt die Literatur? Hier helfen gerade die Dystopien und Endzeitgeschichten nicht weiter, die in den vergangenen Jahrzehnten sehr populär waren. Keine liefert eine Folie, keine wird ernsthaft herangezogen, um einen Vergleich zu ziehen. Wie anders war das beispielsweise mit George Orwells "1984" im Kontext der Datensammlung und Sprachregelung. Jetzt, bei Corona, ist da nichts. Es sei denn, sehr auf die Einzelperson Gerichtetes wie "Die Reise um mein Zimmer" von Xavier de Maistre aus dem 18. Jahrhundert. Kaum ein wichtiges Feuilleton, das dem bis dato kaum bekannten Text zuletzt nicht einen größeren Beitrag gewidmet hat, Lesungen wurden ausgestrahlt. Und darum geht es: Ein Mann steht unter Hausarrest und darf ein Zimmer nicht verlassen. Nun verfasst er den Bericht einer Reise durch ebendiese Stube. Das war's.
Man darf gespannt sein, was kommt, wenn die Autoren ihre ersten tiefgehenden Betrachtungen (nicht die, die dem schnellen Verkauf dienen) verfassen, man darf gespannt sein, was auf den Bühnen passiert, wenn die Theater wieder spielen. Wie werden sie die Fragen aufgreifen, die vor allem unser Nichtwissen aufwirft?
Bis dahin stehen wir vor einem täglichen Aushandeln, wie es wohl noch nie stattgefunden hat. Schon bei einfachen Fragen wie: Warum darf man in der Freizeit Fahrrad fahren, aber nicht Motorrad? Argumente werden ausgetauscht. Es macht Spaß, der Gesellschaft beim Denken zuzusehen. Klar geht das auch schief. Wenn ich mit zwei Freunden abstandwahrend ein Bier trinke und dabei etwas werkele, ohne dass Geld im Spiel ist, ist das verboten. Wenn ich mit zwei Kollegen gewerblich einen BMW tiefer lege und dafür Geld erhalte, ist das erlaubt, inklusive Bier, wenn wir wollen. Auch das ein Spiegel unserer Gesellschaft, die ihre Grundregeln nicht gleich ändern wird, auch wenn viel Nachdenken über Grundsätzliches da ist. Und wir merken, dass wir mit der Frage nach dem Wie nie fertig sind, wenn es um das Verhältnis von Einzelnen und Vielen geht.
An der Stelle doch noch ein Verweis auf einen Schriftsteller, dem das Thema des Einzelnen in der Welt der Milliarden Mitmenschen viel bedeutet und abverlangt hat: Friedrich Dürrenmatt. "Der Mensch lernt in der Katastrophe, menschlich zu leben, was er im Frieden nicht kann", schrieb der Schweizer. Wobei Menschlichkeit eben auch bedeutet, an den zu denken, der nicht sichtbar ist. Wo manche hingegen ihre Begegnung mit einem Freund als menschlichen Akt zelebrieren, als verteidige man ein gallisches Dorf, muss man ein Fragezeichen setzen.
In Friedrich Dürrenmatts bekannter Tragigkomödie Der Besuch der alten Dame reist eine inzwischen zu einem Milliardenvermögen und damit Macht gekommene Seniorin in ihr Geburtsstädtchen an, um sich an Alfred Ill zu rächen, der sie als junges Mädchen schändlich behandelt hatte. Sie fordert Ills Leben und verspricht den Einwohnern des Städtchens im Gegenzug schlicht viel Geld, Hochkonjunktur, Wohlstand für alle. Die Idee, Ill zu töten, verbreitet sich daraufhin im Ort wie eine ansteckende Krankheit, das Fieber wird in den einzelnen Menschen immer hitziger bis zu Ills Katastrophe. Was in der Stadt Güllen passiert, sei die virulent gewordene Ausrede für die Bereitschaft, sich an fehlende Menschlichkeit zu gewöhnen, schrieb damals ein Kritiker.
Die Situation, die in Dürrenmatts Groteske herrscht, hat neben der Virulenz eine wichtige Gemeinsamkeit mit der Corona-Lage: Die Frage, was tun und was lassen, kann man nicht mit dem Verweis auf das Gewissen beantworten. Wer sagt, man müsse mit dem Gewissen ausmachen, wen man trifft und ob man etwa lieber dem Kind einen schönen gemeinsamen Geburtstag ermöglicht oder sich an die strengen Regeln hält, der legt den Ball ins falsche Feld. Das Gewissen kann hier nichts, außer schlimmstenfalls die eigenen Wunschvorstellungen schön zu färben. Hier braucht es höheres, gemeinsame Verabredungen, an die sich im Einzelfall zu halten viel mit Idealismus zu tun hat.
Sonst sind wir schnell im Bereich der im Einzelfall harmlos wirkenden Ausreden: "Die Freiheit der Begegnung mit X und Y nehme ich mir." Fair aber ist das nicht gegenüber denen, die weiterhin hinter ihren Fenstern zuschauen. Auch die trotzigen Begegnungen sind ein kommunikativer Akt, eine Message, die die Gesellschaft aufnimmt. Die Beziehung zwischen dem Einen und den Vielen macht keine Pause. Das musste auch jemand wie der bekannte Fußballtrainer Jürgen Klopp erfahren, der erst für den Satz gefeiert wurde, dass auch nur ein gerettetes Menschenleben jeden Aufwand rechtfertige, dann aber wahrnehmbar schwieg, als sein Club Staatshilfen für die verkürzt arbeitenden Angestellten beatragte, während die Profisportler ihre Millionen ohne Abstriche kassierten.
Was uns ein Leben wert ist, die Diskussion erreicht bei Corona fast alle Teile der Gesellschaft. Das ist gut so. Man wird sehen, ob auch andere Diskurse davon berührt werden. Mehr als 3.000 sterben immer noch Jahr für Jahr auf deutschen Straßen. Tempolimit auf der Autobahn? Tempo 30 in Innenstädten? Hier ist die kommunikative Vernunft bisher zu anderen Ergebnissen gekommen. Wieder heißt es: Individuum contra Welt der Vielen. Diese eine Fahrt mit 190 km/h ist wie die eine Begegnung zu Pandemiezeiten: Wahrscheinlich nicht tödlich.
Glauben trifft auf Wissen. Wie viel stärker ist der Satz "Ich glaube es nicht" im Vergleich zu "Ich weiß es nicht." Wo es um ein Virus geht, das wir nicht sehen, dessen Wirkung viele nicht einmal spüren, liegen Wissen und Glauben für den Laien ziemlich nah beieinander. Gefährlich ist, wo sie sich mischen und nicht mehr trennen lassen. Dann nimmt unser Aushandeln, nimmt die kommunikative Vernunft Schaden. Es geht nicht darum, auf das Glauben zu verzichten. Allerdings ist es höchst persönlich. Und beim Umgang mit einem Virus, der den Bereich des Persönlichen weit übersteigt, bringt "Ich glaube" oder "Ich glaube nicht" keinen Konsens. Vergleichbar ist die Floskel, die oft missbraucht wird, um kritische Diskussionen zu vermeiden, "Ich hab meine Meinung, du hast deine". Sie führt direkt in die Sackgasse, intellektuell und praktisch. Hier hilft nur, wahrscheinliche Szenarien zu entwickeln und sich damit auseinanderzusetzen. Auszuhalten, dass Wahrscheinlichkeit auch viel Nichtwissen beinhaltet. Und auszuhalten, dass das Experten besser einordnen können. Auch jene Experten, welche die vorherrschenden Szenarien verwerfen und die Maßnahmen für Überzogen halten, werden gehört werden. Aber sie und ihre Anhänger sollten nicht "Verschwörung" rufen, wenn sich die Sicht nicht durchsetzt. Damit verlassen sie die Auseinandersetzung. Und verhelfen, nebenbei, den oft unredlichen Verbeitern "alternativer" Wahrheiten zu reichlich Klicks und schnellem Geld.
Die Übung der kommunikativen Vernunft, die wir hier als Katastrophenübung durchspielen, ist ein täglicher Test der Aufklärung. Die geistige Wiege Europas muss sich bewähren: Stellen wir uns wirklich infrage, wie es die Vernunftkritik nicht erst seit Kant fordert? Es ist gut, dass die Bundeskanzlerin nicht mehr von "alternativlos" spricht, sondern von eigenen Unsicherheiten. Die Gesellschaft fährt auf Sicht, und wichtig dabei ist, dass sie nicht nur sieht, was ins eigene Bild passt. Wir erleben Politiker, die sich korrigieren. Auch das macht durchaus Spaß. Und noch etwas kann man zwischen all den Zahlen und Interpretationen sehen, wenn man will: Idealismus. Nichts anderes verkörperte die als pragmatisch verschrieene Kanzlerin, als sie Ende März für ihre historische Rede vor der Kamera stand. Keine Zahlen. Keine Spekulationen. Aber ein höheres Ziel. Und siehe da, viele Menschen verstehen und unterstützen das. Keine gesellschaftliche Gruppe, von der bekannt wäre, dass sie sich als geschlossene Gruppe gegen die Maßnahmen stellte. Wo doch die Einordnung von Bevölkerungsteilen in gesellschaftliche Gruppen und ihre Analyse in Sachbüchern oder auf Podien in den letzten Jahren Konjunktur hatte. Keine Frage, diese Zustände werden schnell wiederkehren, spätestens wenn es um die Frage geht, wie die wirtschaftlichen Lasten der Corona-Lage zu verteilen sind.
Der Zusammenhalt, von dem in Zeiten von Corona oft geredet wurde, entstand vor allem dadurch, dass es bei der Infektionsbegrenzung auf jeden Einzelnen ankommt. Plötzlich ein relevanter Teil der Gesellschaft sein, das war ein wirklich gewordener Sehnsuchtsmoment. Diese Wirklichkeit wird nicht lange halten. Den unbekannten Nebenmann wird es aber weiterhin geben. Auch wenn keiner mehr von Balkonen singt. Es wird wahrscheinlicher, dass man ihn wahrnimmt, wenn man die Übung der Corona-Zeit weiterführt. Und mehr, viel mehr Stimmen in sein Bild von den Dingen einfließen lässt. So wie man heute mehrere Virologen hört und ihre Befunde vergleicht. Das Für und Wider von Maßnahmen und Lockerungen ausführlich diskutiert. Und bei Widersprüchen nicht gleich "Teufel!" schreit. Das war so Gang und Gäbe: Vor der Aufklärung.